Solidarität beginnt da, wo es weh tut

Keynote vom 04.12.2023, Netzwerkveranstaltung “Women support Women” in Tamm

Neben meiner Selbständigkeit als Autorin, Referentin und Sensitivity Reader bin ich auch Co-Host des Blogs “Kaiserinnenreich”, einem Blog von pflegenden Müttern für andere pflegende Eltern. Ich leite dieses Projekt zusammen mit Simone und Bárbara, beide haben auch behinderte Kinder und haben sich so wie ich die Sichtbarkeit unserer Pflegearbeit zur Aufgabe gemacht. Wir erzählen aus unserem Alltag und veröffentlichen auch Gastbeiträge aus unserer Community, um eine noch breitere Vielfalt an Perspektiven zu geben.

Screenshot vom Spiegelartikel über Bárbara Zimmermann

»Klar liebe ich meine Kinder, trotzdem bin ich müde« Bárbara Zimmermann

Vor zwei Tagen wurde über Bárbara ein Artikel auf Spiegel online veröffentlicht und der dazu gehörige Instagram-Account hat diesen mit sehr schönen Kacheln und wertschätzenden Worten beworben. Ich war angenehm überrascht, dass sowohl Wording als auch Zitate sehr neutral gehalten waren. 

Bárbara wurde als Doktorandin, Mutter von drei Kindern und pflegende Mutter ihrer behinderten, jüngsten Tochter vorgestellt. In ihren Zitaten bekräftigte sie die Liebe zu ihren Kindern und beklagte gleichzeitig, wie müde sie war. Physisch und mental. Wie anstrengend es sei, eine Dissertation zu schreiben, ihrer Tochter Teilhabe zu verschaffen und gleichzeitig die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu berücksichtigen. Im Artikel berichtete sie davon, wie Kämpfe mit der Krankenkasse oder häufige Klinikaufenthalte sie zermürben. Sie wünschte sich weniger Hürden und mehr Unterstützung beim Kampf um Inklusion und Anerkennung ihrer Arbeit als pflegende Mutter. In den Kommentaren gab es ganz viele empowernde Grüße und Bestätigungen, dass die Systeme gegen uns arbeiten, und es längst an der Zeit ist, all das mal auf den Tisch zu legen.

Doch es gab auch diese Kommentare “Warum muss man noch promovieren, wenn man schon drei Kinder hat. Hat sie nicht genug zu tun?” “Man muss sich doch VORHER überlegen, ob man mit drei Kindern klar kommt.” “Sie will auf Konzerte mit ihrem Mann gehen? Was denn noch? Geht halt nicht mit Kindern.” “Was macht eigentlich der Vater?” “Wenn sie die Bedürfnisse von fünf unterbringen muss, muss sie sich dann noch um ihren Mann wie um ein Kind kümmern? Kein Wunder, dass sie so gestresst ist.” “Korrelation zwischen Anzahl der Kinder und Anforderungen???” und mein ‘Lieblingskommentar’ “Kondome schützen”. 

Was all diese Kommentare und die Perspektive der zumeist weiblichen Personen dahinter gemeinsam haben, sie verfrachten die Verantwortung von Care- und Pflegearbeit in den privaten Bereich. Unsere Gesellschaft ist nur so gut wie die Systeme, in denen wir uns bewegen und die uns zusammenhalten. In diesen Systemen kommt eine Frau wie Bárbara nicht vor. Im Kapitalismus und der Wirtschaft ist sie unsichtbar. In der Politik bedeutet ihre Existenz immer ein Extra. In der Eltern-Community ist sie die Laute, die Unangenehme. Andere Frauen erinnert sie daran, warum diese vielleicht den Traum eines weiteren Kindes oder den der Dissertation aufgegeben haben. Es besteht einstimmig die Meinung, ihre Erschöpfung sei hausgemacht, sie allein sei verantwortlich für ihr Glück oder eben Unglück und damit sei der Zug für ein gutes Leben natürlich abgefahren, finde dich damit ab und jammer nicht rum. 

Während ein Teil von uns denkt “Ja klar, isso”, denkt ein anderer Teil “What the Fuck?”.

Der erste Teil ist unsere Sozialisierung, die uns sagt, was noch ok ist für Frauen und was zu viel ist, an welcher Stelle wir Forderungen stellen dürfen und wo nicht. Unsere Sozialisierung sagt, wir Frauen können alles mögliche wollen, aber wir müssen halt mehr dafür tun, uns viel mehr anstrengen und dabei möglichst nicht jammern und uns beschweren, denn was wollt ihr denn noch alles!! Sehr gutes neues Buch von Alexandra Zykunov übrigens mit dem Titel. Ist diese Frau, wie im Fall von Bárbara, auch noch mit dem Fürsorge-Stempel markiert, also “hat sie schon genug zu tun”, gibt es in unserer Sozialisierung überhaupt keinen Anspruch auf Selbstverwirklichung. Sozialisierung als System gewinnt immer.

Wenn wir als Frauen solidarisch miteinander sein wollen, müssen wir diese Systeme überwinden. Nein, korrigiere, zuerst müssen wir sie verstehen. Wir müssen wissen, welche Narrative uns klein halten und wie es dazu kommen kann, dass andere Frauen einer Bárbara unterstellen, sie hätte einfach alles falsch gemacht, wenn sie jetzt so erschöpft und müde ist. Wir müssen verstehen, welche Privilegien wir als Individuum mit bestimmten Merkmalen haben und wer sie nicht hat und wie es zu diesen Unterschieden kommen kann. Das kann mitunter schmerzhaft sein, weil wir gerne vergessen, dass es andere gibt, die es nicht so gut haben. Das macht unser Gehirn schon ganz gut. Dieses Verdrängen. Wir müssen über unseren eigenen Tellerrand hinausschauen und sie sehen, die anderen, die sonst so unsichtbar sind. Und wir müssen anerkennen, dass sie genauso viel zu unserer Gesellschaft beitragen, auch wenn die (im übrigen zumeist männlich geprägten) Systeme dies negieren. 


WIR. Geschichten aus dem Alltag mit behinderten Kindern → Mehr erfahren

 

Solidarität ist also auch die pflegenden Mütter als vollwertige Mitarbeiterinnen zu sehen, auch wenn sie zu mehr Arztterminen müssen und ihr Fokus an manchen Tagen eher auf Kämpfe mit der Krankenkasse gerichtet ist als auf das Meeting. Und wenn Solidarität als Argument im Business nicht reicht, wie wäre es mit den Talenten für Orga, Verhandlungen und Office Management? Das Budget ist zu knapp? Wir kennen Wege, Mittel zu strecken. Der Antrag auf Fördermittel ist 20 Seiten lang? Been there, done that. Schieb rüber. Jemand muss hartnäckig bleiben in den Verhandlungen? Oh please, der letzte Kampf mit der Krankenkasse ging zwei Jahre und ich hab gewonnen. Pflegende Mütter halten den Laden zusammen, ob sie wollen oder nicht.

Wenn wir also darüber sprechen, dass wir uns gegenseitig unterstützen, muss diese Solidarität allen gelten, nicht nur denen, die sichtbar sind. Sie sollte vor allem denen gelten, die sonst vergessen werden, weil sie nicht die gleichen Privilegien wie andere haben, um in der ersten Reihe zu stehen. Solidarität darf erst dann aufhören, wenn wir alle die gleichen Chancen haben. Und sie muss da beginnen, wo es weh tut.

Zurück
Zurück

Interview mit Schülerin für einen Fachtag, 12. Klasse

Weiter
Weiter

Bodyneutrality als Station auf dem Weg zur Bodypositivity